Hermann Cohen
Biographischer Abriss
geb. 4. Juli 1842 in Coswig/Anhalt; gest. 4. April 1918 in Berlin
Hermann Cohen, einziger Sohn von Gerson Cohen und dessen Frau Friederike, geb. Salomon, wurde schon seit seinem vierten Lebensjahr durch seinen Vater, Kantor der jüdischen Gemeinde und Lehrer in Coswig, in hebräischer Sprache und Literatur unterrichtet. Hauptsächlich die Mutter bestritt durch ein Geschäft für Modeartikel den Lebensunterhalt der Familie. Ab 1853 besuchte Cohen das Herzogliche (später Friedrichs-) Gymnasium in Dessau, seit Oktober 1857 das "Jüdisch-theologische Seminar Fraenckelscher Stiftung" (gegründet 1854) in Breslau. Er verlies diese – wie er später sagte – "vornehmste Bildungsstätte meiner Jugend" allerdings "vorzeitig" und immatrikulierte sich 1861 an der Philosophischen Fakultät der Universität. 1864 holte er das Abitur nach und setzte seine Studien in Berlin fort, auch über die im Oktober 1865 in Halle erfolgte Promotion hinaus.
Er wurde Mitarbeiter der von Chajim Steinthal und Moritz Lazarus herausgegebenen Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Eine Kontroverse zwischen Adolf Trendelenburg und Kuno Fischer über das richtige Verständnis der Raum-Zeit-Lehre Kants veranlasste Cohen zu intensiver Beschäftigung mit den Schriften dieses Philosophen. 1871 erschien Kants Theorie der Erfahrung, ein für den Neukantianismus in philologischer wie philosophisch-systematischer Hinsicht grundlegendes Werk. 1873 gelang Cohen die Habilitation in Marburg; 1876 wurde er hier ordentlicher Professor der Philosophie als Nachfolger seines verstorbenen Förderers Friedrich Albert Lange. Am 6.6.1878 heiratete er Martha Lewandowski (20.6.1860-12.9.1942). Ihr Vater, Louis Lewandowski, war Komponist und Chordirigent in verschiedenen Synagogen Berlins. Auch das Ehepaar Cohen verband die Liebe zur Musik; Hermann Cohen war langjähriger Vorstand des Marburger Musikvereins.
Unter der Zielsetzung, den kantischen Idealismus zeitgemäß zu erneuern, ließ Cohen seiner Aufarbeitung der theoretischen Philosophie Kants die Bücher Kants Begründung der Ethik (1877, 2. Aufl. 1910) und Kants Begründung der Ästhetik (1889) folgen. In letzterem Buch richtete sich sein Blick schließlich auf die "Thatsache der Kultur" insgesamt und die Frage nach einem "Bewusstsein des Systems", also auf die Idee einer "Zusammenstimmung aller Bewusstseinsarten". Zusammen mit der stark umgearbeiteten und erweiterten Zweitauflage von Kants Theorie der Erfahrung (1885, 3. Aufl. 1918) und der Studie zum Prinzip der Infinitesimal-Methode (1883) bildeten die Kantbücher die Grundlage für die Doktrin der "Marburger Schule", die Cohen zusammen mit seinem Kollegen Paul Natorp begründete; ihre wichtigsten Repräsentanten in der jüngeren Generation waren Ernst Cassirer, Albert Görland und Nicolai Hartmann.
Seit den 90er Jahren formte sich bei Cohen allmählich die Idee eines eigenen Systems der Philosophie. Die Tendenz zur Überwindung des "Methoden"-Dualismus von Anschauung und Denken führte Cohen im ersten Teil seines Systems, der Logik der reinen Erkenntnis (1902, 2. Aufl. 1914) zur These von der reinen Logizität der Erkenntnis. Die axiomatischen Voraussetzungen, auf denen Mathematik und Naturwissenschaften fußen, sollen aus ihrem Ursprung im reinen Denken auf- und ausgewiesen werden. Mit seinem zweiten systematischen Hauptwerk, Ethik des reinen Willens (1904, 2. Aufl. 1907), legte Cohen eine Rechts- und Tugendlehre des "ethischen Menschen" vor, in der er seine Theorie des ethischen Sozialismus begründete; die Ästhetik des reinen Gefühls (1912) setzt die Geltung künstlerischen Schaffens und Urteils ins "Gefühl", verstanden als eine dritte, die theoretische und praktische Objekterzeugung überformende Bewusstseinsrichtung. Den geplanten vierten Teil des System, eine Psychologie der "Einheit des Bewusstseins", hat Cohen nicht mehr geschrieben. Bis zum Lebensende hielt er an der Absicht fest, dieses Werk, eine "hodegetische", d.h. ‚wegleitende‘, "Enzyklopädie des Systems der Philosophie", vorzulegen.
Schon in den 60er Jahren und dann in Marburg hatte er über religionsphilosophische Fragen publiziert und wiederholt zur religiösen, kulturellen und politischen Situation des Judentums Stellung genommen. Seit seinem Bekenntnis in der Judenfrage (1880), das er zu dem von Heinrich von Treitschke ausgelösten "Berliner Antisemitismusstreit" beitrug, und seinem Gutachten Die Nächstenliebe im Talmud in einem Marburger Prozess 1888 bekämpfte er als Vertreter eines liberalen, aber dezidiert auf dem Recht und der Pflicht zur eigenen Religion bestehenden Judentums den grassierenden Antisemitismus. Vor allem seit den neunziger Jahren setzte sich Cohen (erneut) intensiv mit mittelalterlichen Philosophen jüdischer Herkunft auseinander, nicht zufällig also in der Zeit, in der auch die Disposition zu seinem System der Philosophie entstand. Einige der für sein religiöses Denken entscheidenden Aufsätze gingen aus dieser geschichtlichen Besinnung hervor, etwa Religion und Sittlichkeit (1907), Charakteristik der Ethik Maimunis (1908), Innere Beziehungen der Kantischen Philosophie zum Judentum und Die Einheit des Herzens bei Bachja (1910).
1912 wurde Cohen auf eigenen Wunsch emeritiert und siedelte nach Berlin über. Er dozierte hier seit Januar 1913 an der "Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums". Im Mai 1914 besuchte er verschiedene jüdische Gemeinden in Russland. Sein zu Beginn des Weltkrieges weitgehend ungetrübter Patriotismus machte unter dem Eindruck der neu aufflammenden Judenfeindschaft bald Bitterkeit und Skepsis Platz. Unter den zahlreichen Arbeiten der letzten Lebensjahre, die sich unter anderem mit dem Verhältnis von Deutschtum und Judentum beschäftigen, ragen seine Studie zum Begriff der Religion im System der Philosophie (1915) und die postum erschienene Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919, 2. Aufl. 1929) hervor. Das erste Buch führt mit der Würdigung einer "Eigenart" des religiösen Bewusstseins gegenüber den "selbständigen" Richtungen des systematischen Bewusstseins zu einem neuen Begriff des Individuums. Das Nachlasswerk verknüpft jüdische Religiosität und philosophische Vernunft. Eine "Religion der Vernunft" zu denken, bedeutet für Cohen, den Ursprung der Vernunft als eine über die Vergegenwärtigung von menschlichem Leiden und in liturgischer Praxis vollzogene "Korrelation" zwischen Gott und Mensch auszusprechen.
Helmut Holzhey, Hartwig Wiedebach